Es vergehen Tage, Wochen oder Monate, bis sich die vollständige Wucht eines historischen Ereignisses voll entfaltet. Das gilt auch für den Tabubruch im Deutschen Bundestag: Die AfD wurde erstmals von der Union eingeladen, gemeinsam eine politische Mehrheit zu bilden.
Ist dieser Tabubruch der Start in eine ausgeprägte Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen?
Die AfD hat diese Einladung am Mittwoch natürlich dankbar angenommen und freut sich nun über einen „historischen Moment“.[1] Der sogenannte 5-Punkte-Plan der Union zur Migrationspolitik wurde mit knapper Mehrheit verabschiedet.
Trotz zahlreicher Demonstrationen und massiver öffentlicher Kritik hat Friedrich Merz (CDU) dann am Freitag versucht, zusätzlich das auch von den Kirchen [2]scharf kritisierte „Zustrombegrenzungsgesetz“ mit den Stimmen der AfD durch den Bundestag zu bringen.
Ich bin erleichtert, dass er mit dem Versuch, erneut mit den Rechtsextremen zusammenzuarbeiten, nach einer emotionalen Debatte gescheitert ist.[3] Zwölf Abgeordnete der Unionsfraktion stimmten nicht ab – dazu kamen noch 23 Abweichler*innen von der FDP.
Das Scheitern von Merz kann allerdings nur ein schwacher Trost sein, denn der Schaden an der Brandmauer zur AfD ist angerichtet. Solange Friedrich Merz und die sonstige CDU-Führung den Fehler nicht eingestehen, besteht Wiederholungsgefahr.
Der Blick in eine ungewisse Zukunft
Die Folgen der indirekten Zusammenarbeit von Union und AfD sind und bleiben gravierend: Die Union gesteht der AfD großen politischen Einfluss zu und kopiert dabei sogar ihre Forderungen. Das bringt der CDU keine Stimmen, nutzt aber der AfD, weil Merz die Partei und ihre menschenfeindlichen Position deutlich normalisiert hat.
Die CDU wird in Städten und Gemeinden, in denen die AfD stark ist, kaum noch Hemmungen haben, gemeinsam mit der AfD abzustimmen. Es dürfte zunächst noch verdeckt, dann aber immer sichtbarer zu Absprachen kommen. Am Ende steht die offene Zusammenarbeit. Auf Landesebene droht ebenfalls der Zusammenbruch der Brandmauer.
Kann die Brandmauer noch gerettet werden?
In Sachsen, Brandenburg und Thüringen sind zwar Regierungsbildungen ohne die AfD gelungen, aber wie stabil diese Regierungen sind, muss sich noch zeigen. In Sachsen-Anhalt jedenfalls, wo 2026 gewählt wird, gibt es schon jetzt zahlreiche Stimmen aus der CDU, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen.
Hier dürfte der Kurs von Merz als Einladung verstanden werden.[4]Noch am 13. November hatte Friedrich Merz gesagt, er wolle dafür sorgen, dass „weder bei der Bestimmung der Tagesordnung noch bei den Abstimmungen in der Sache hier im Haus auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD zustande kommt.“[5] Dieses Versprechen hat Merz ohne jeden erkennbaren Skrupel gebrochen.
Der Scherbenhaufen…
Seine Glaubwürdigkeit ist endgültig dahin. Und es ist denkbar, dass Merz eine gemeinsame Mehrheit von CDU, CSU und AfD während der Koalitionsverhandlungen missbraucht. Er könnte seine potentiellen Partner von Grünen und SPD zu massiven Zugeständnissen in der Migrationspolitik erpressen.
Klar ist aber auch: Merz hat aus einer Position der Schwäche gehandelt. In der CDU gibt es mehr Widerwillen gegen ihn, als bislang sichtbar war. Seine persönlichen Beliebtheitswerte sind niedrig, und die Zustimmung für die Union bei Umfragen verharrt bei rund 30 Prozent.
Die Kehrtwende des CDU-Chefs nach den furchtbaren Morden in Aschaffenburg ist also eher als Versuch eines Befreiungsschlags zu verstehen. Das Statement jedenfalls, das Angela Merkel am Tag nach der ersten Abstimmung veröffentlichte, war bemerkenswert.
Die ehemalige Bundeskanzlerin attestiert Merz einen Wortbruch und findet die gemeinsame Abstimmung mit der AfD schlicht „falsch“.[6] Offensichtlich teilen auch die zwölf Abgeordneten der Union, die nicht abstimmten, diese Kritik.
Mehrheitlich für die Demokratie stimmen
So sehr die Lage ein Scherbenhaufen ist, vor einem müssen wir noch keine Furcht haben: dass die Union sich nach der Bundestagswahl von der AfD tolerieren lässt oder sogar eine Koalition bildet. Das wollen annähernd zwei Drittel der Deutschen nicht – darunter auch die Mehrheit der Unionswähler*innen.[7]
Vor allem würde ein solcher Schritt die CDU zerreißen.Kommen wir zu dem, was uns Mut machen sollte. Das ist die Entschlossenheit und Bereitschaft der Zivilgesellschaft, die Demokratie zu verteidigen. Dieses Engagement hat ganz klar dazu beigetragen, dass am Freitag der erneute Versuch einer Zusammenarbeit mit der AfD gescheitert ist.
Es steht fest: Mit einem breiten gesellschaftlichen Rückhalt kann die Brandmauer überleben.
Über eine halbe Million Menschen haben im Rekordtempo unseren Appell für die Brandmauer unterzeichnet. Künstler*innen und Influencer*innen melden sich zu Wort, ebenso Akteur*innen aus der Wirtschaft. Das sind gute Zeichen.Campact hat viele der spontanen Demonstrationen der letzten Tage mitorganisiert oder unterstützt.

Auch in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren werden wir nicht akzeptieren, dass die AfD jemals sowas wie eine normale Partei sein könnte. Sie ist rechtsextrem, menschenfeindlich und anti-demokratisch. Wir werden uns dem Rechtsruck entgegenwerfen, wo immer es geht. Dabei haben wir die folgenden drei zeitlichen Stränge im Blick:
Kurzfristig:
Wir treiben die politischen Kosten des Tabubruchs für Merz und die CDU in die Höhe. Die Union muss erkennen, dass die Zusammenarbeit mit der AfD ein Fehler war und sich nicht wiederholen darf. Ein öffentlicher Konsens, dass die Zusammenarbeit mit der AfD politisch verwerflich war, ist wichtig, aber nicht ausreichend.
Am Wahlabend des 23. Februar soll sich zeigen, dass die Union durch den Dammbruch keine Stimmen hinzugewinnen konnte. Deshalb werden wir weitere große Demos starten – damit die Union unter 30 Prozent landet. In den sozialen Medien starten wir eine Kampagne, die die Anständigen aus den Reihen ehemaliger Merkel-Wähler*innen anspricht.
Mittelfristig:
Wir wollen die weitere Erosion der Brandmauer stoppen. Gemeinsame Abstimmungen dürfen sich nicht wiederholen. Vor allem muss das Fundament der Brandmauer erhalten bleiben – Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit mit der AfD sind tabu. Hier droht Gefahr bei Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und insbesondere Sachsen-Anhalt im nächsten Jahr.
Dort gibt es schon jetzt CDU-Leute, die eine engere Zusammenarbeit mit der AfD anstreben.[4][8] Wir werden eine große Kampagne entwickeln, um zu verhindern, dass nach diesen Wahlen die CDU mit der AfD koaliert oder sich von ihr tolerieren lässt.
Langfristig:
Wir brauchen eine solide Strategie, die bis zur nächsten Bundestagswahl reicht. Die Zivilgesellschaft muss aus der Defensive kommen, nicht immer nur reagieren. Themen, die den Menschen wichtig sind, müssen zurück auf die politische Agenda: Wohnungsnot, schlechte Kinderbetreuung, kaputte Infrastruktur, die Klimakrise.
Ebenso wichtig ist es, rechtsextreme Debatten in sozialen Medien zurückzudrängen. Das braucht mehr politische Regulierung, aber auch stärkere progressive Medien und einen investigativen, unabhängigen Journalismus.
Campact ist wie geschaffen für Krisen: schnell mobilisieren, schnell unterstützen, die große Reichweite ausspielen.
Aber wir dürfen uns nichts vormachen. Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind riesig.
Nach dieser Woche des Tabubruchs denke ich: Wir müssen noch größer denken, ambitionierter werden, was unsere Strategien angeht – und noch breitere Bündnisse schmieden. Nur so können wir die Rechtsextremen zurückdrängen.Alexandre, mir war heute wichtig, Dir einen Einblick in unsere erste Analyse des Dammbruchs der Union zu geben.
Wenn Du diese Mail liest, stecken wir bereits die Köpfe zusammen, um diese Pläne zu konkretisieren. Es wäre großartig, wenn Du uns ab jetzt mit einem regelmäßigen Betrag unterstützt. Wir brauchen für unsere Arbeit ein noch stabileres Fundament. Vielen Dank!
Fördere Campact mit 1 Euro pro Woche
Herzliche Grüße
Felix Kolb, Campact-Vorstand
PS: Bei aller Strategie, die ich hier niedergeschrieben habe, war ich doch auch in Gedanken bei den Angehörigen des im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten ermordeten Walter Lübcke. Der CDU-Politiker hatte sich für Geflüchtete und gegen die Pegida-Bewegung engagiert. Dafür zahlte er mit seinem Leben. Wie fühlt sich wohl seine Familie, der die CDU nach der Tat Solidarität versprach und nun eiskalt mit Rechtsextremen stimmt?
[1] „Merz und AfD: Gemeinsames Abstimmen führt zu historischem Eklat“, Table Media, 29. Januar 2025
[2] „Gemeinsame Stellungnahme der Kirchen zum Zustrombegrenzungsgesetz“, EKD Online, eingesehen am 30. Januar 2025
[3] „Keine Mehrheit im Bundestag: Union scheitert mit Migrations-Gesetzentwurf“, ntv Online, 31. Januar 2025
[4] „Nach Asyl-Abstimmung: Ost-CDU will Brandmauer niederreißen“, Bild Online, 30. Januar 2025[5] „‚Halte ich für falsch’: Merkel kritisiert Merz wegen Mehrheit mit der AfD“, watson.ch, 30. Januar 2025
[6] „Erklärung von Bundeskanzlerin a. D. Dr. Angela Merkel zur Abstimmung im Deutschen Bundestag am 29. Januar 2025“, Büro Angela Merkel Online, 30. Januar 2025
[7] „Politbarometer vom 24. Januar 2025“, ZDF Online, 24. Januar 2025
[8] „Aktuelle Stunde: Hitzige Debatte um Asylpolitik im Landtag in Schwerin“, NDR Online, 29. Januar 2025
You must be logged in to post a comment.